Der Philosoph Peter Bieri hat einen vielschichtigen Bildungsbegriff entworfen. Vor dem Hintergrund dieser philosophischen Bildungsidee wird die Bildungsrealität kritisch befragt. Von Elisabeth Schreck
Bildung als Meinungsbildung?
Bildung ist in der Leistungsdruckgesellschaft des Kapitalismus weniger die Fähigkeit zur Meinungsfindung und zum Erlernen des Lernens, als ein Ausweis für die Fähigkeit, anfallartig für Klausuren und Tests lernen zu können, um alles nach diesen sofort wieder zu vergessen. Worum es hier geht, ist nicht das Herausarbeiten kritischen Denkens, sondern die Möglichkeit, Dinge zu bewerten, die nichts mit Bildung zu tun haben: Vor Klassen sprechen, innerhalb von vier Stunden irgendwie drei annehmbare Texte herunter rattern, den Lehrplan erfüllen, den NC schaffen.
Aber was sagt der Numerus Clausus denn überhaupt über die Bildung eines Menschen aus? Zu wenig Studienplätze für die vielen Bewerber, so lautet die Begründung für die Einführung des Kriteriums „Bewertbarkeit“. Dabei sind, so habe ich den Eindruck, so viele gar nicht für ein Studium geeignet. Jeder erhofft sich einen sicheren, ordentlich bezahlten Job durch das Akademiker-Dasein, dabei gibt es tatsächlich recht viele arbeitslose Studierte. Das liegt daran, das Ausbildungsberufe zu schlecht bezahlt werden; Kindergärtner, Altenpfleger, der gesamte soziale Bereich ist ein sehr guter Beispiel. Lehrer sollen mit wenigen Semestern Pädagogik-Studium die Inklusion in Deutschland umsetzen.
Ich finde Integration und Inklusion auf jeder Ebene großartig, aber Schulen und Lehrer schaffen es jetzt schon kaum, sich auf Schüler individuell zu konzentrieren oder gar eine angemessene, passende und detaillierte „Bewertung“ dieser abzugeben, wenn diese doch so wichtig ist. Bildung hat durchaus viel mit Verständnis und Wissen zu tun, aber noch viel mehr mit Meinungsbildung. Diese aber passt in den Lehrplan nicht rein, er ist zu eng. G8 lässt unerbittlich das Interesse, die Neugierde und im Anschluss die Wahlbeteiligung sinken. Informationsverarbeitung, das Lesen von Texten und Recherche ist mit Sicherheit nicht nutzlos, aber auf sie muss immer eine objektive Untersuchung der Ergebnisse und ihrer Deutung folgen. Dies geschieht in einer Diskussion mit anderen Menschen näherungsweise, da viele verschiedene Perspektiven kritisch untersucht werden.
Zudem sollte man, wenn schon Klausuren geschrieben werden müssen, viel mehr Wert auf den dritten Aufgabenbereich legen. Im Studium geht es auch um Analyse und gar nicht um Rekreation. Zusammenfassungen gehören in die 5.-7. Klasse, nicht aber in Texte, die über die akademische Zukunft eines (bald) politisch mündigen, erwachsenen Bürgers entscheiden. Dort ist Verständnis und die Fähigkeit, Kritik auszuüben, gefordert.
Doch auch tiefgründigere Kritik am Schüler kommt zu kurz – mangels Zeit, mangels Personal, mangels Bezahlung und auch bürokratische Hürden lassen vor dem Lehrerdasein zurückschrecken. Finnland und Schweden haben besser koordinierte Langtagssysteme, besser ausgebildete Lehrer und haben dadurch automatisch bessere Schulabgänger und weniger Schulabgänger ohne Abschluss.
Deutschland hat seine Investitionen ins Bildungssystem verdreifacht – und alles verbessert, außer die Weiterbildung an Oberschulen. Frühkindliche Bildung ist wichtig, ja – aber Fünfjährige die eingeschult werden schießen dann doch auch wieder über das Ziel hinaus. Es gibt auch Fortschritte, das sei gesagt, bilinguale Kindergärten nutzen die besten Jahre zum Erlernen von Sprachen, um Englisch besser zugänglich zu machen. Aber all das bringt der Meinungsbildung und damit auch der Selbstfindung nicht viel.
Schüler brauchen besonders gute Bildung, wenn sie anfangen sich dem Erwachsenenalter zu nähern, wenn sie bewusstere, erfahrenere Entscheidungen treffen. Dort ist die meiste Unterstützung und der größte Input gefordert. Kinder sind vielleicht neugierig, doch wenn man jemanden dazu anregen will, sich selbst zu finden, Souveränität zu finden und sich über sich und die Welt aufzuklären, muss man aufnahmefähigere und orientierungsfähigere Jahre anstreben, als die Kindheit.
Bildung als Aufklärung?
Bildung als Aufklärung funktioniert vor allem über die Quellenkritik. Auf die Neugierde folgt das Verlangen nach Bestätigung, die Validität, Reliabilität und Objektivität von Wissen wird geprüft. In der Schule kriegt man beigebracht, was gute und was schlechte Quellen sind. Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung sind gut, der Express und die Bild schlecht. Die Tagesschau ist objektiver als ProSieben Newstime.Alles ganz richtige Sachen, aber eins wird dabei oft vergessen zu erwähnen; auch gute Quellen bedürfen einer Prüfung. Menschen unterlaufen Fehler und auch absichtliche Vertuschung kann stattfinden, wenn die Öffentlichkeit sich weigert, ihre Neugierde auszuleben – falls diese ihr nicht durch Jahre der Bewertung und Hetze einfach ausgetrieben wurde.
Wie man eine gute Quelle findet ist eigentlich recht offensichtlich: man recherchiert kollektiv. In verschiedenen Meinungsbildern und Theorien wird nach (Un-)Stimmigkeiten gesucht, sie werden in einer Gruppe diskutiert und evaluiert, mit einander verglichen und auf ihre Präzision geprüft. Ein Mensch alleine findet nie alle Kritikpunkte an einem Argument, genau so wenig alles, was dafür spricht. Deshalb ist es wichtig, viele Eindrücke zu sammeln, nicht viele Argumente aber ein breites Spektrum an starken Argumenten für gegensätzliche Parteien zu finden und diese gemeinsam zu betrachten.
Frontalunterricht, Informationsüberflutung und Prüfungswahn verhindern die genaue Prüfung der vorgelegten Texte, woraus mangelnde Aufmerksamkeit bei Persuasion durch Werbung und (beispielsweise) AfD-Propaganda resultiert. Dieses von Bieri als „gedankliche Unbestechlichkeit“ bezeichnete Phänomen ist aber nicht nur gegen Gruppendynamiken und Werbepsychologie hilfreich, es hilft auch im Privatleben. Autoritätspersonen können bei Unstimmigkeiten entlarvt und zur Rede gestellt werden. Freunde und Partner, die schädliche Verhaltensweisen aufweisen, können entdeckt und konfrontiert werden, falls man unwissentlich negativ beeinflusst wird.
Bildung als historisches Bewusstsein?
Dieser Teil des Bildungsbegriffs gibt mir tatsächlich die Gelegenheit zu einer kleinen Erläuterung über meine Schulzeit. Ich finde Geschichte unheimlich spannend. Die Entstehung von erster Interaktion, die sich bis zur Sprache entwickelt, von Höhlen zu Häuschen, zu Dörfern, zu Städten, zu Metropolen. Die Entwicklung verschiedener Kulturen zu gleichen Zeiten auf komplett unterschiedlichen Niveaus der Kunstfertigkeit und des Erfindertums. Die Kreation von Religionen, die Idee von Gott, verschiedene Moralvorstellungen. Die französische Revolution, die Emanzipation der Frauen, die Novemberrevolution in Deutschland. All das sind ungemein spannende und lehrreiche Themen wenn es um den Ursprung meines heutigen Denkens, gar meiner heutigen Existenz geht.
Doch den Geschichtsunterricht habe ich gehasst. Ich hatte von der 5. bis zur 9. eine Geschichtslehrerin – ich werde ihren Namen nicht nennen -, die sich wie ich glaube vor jeder einzelnen Pädagogikstunde im Studium gedrückt hat. Klassenbücher knallen, Kinder anmeckern und im Endeffekt laut und bissig werden waren von ihr gerne genutzte Methoden. Ich habe den Unterricht bei ihr gehasst. Es war sterbenslangweilig und trocken. Als ich Fächer um- und abwählen konnte, als ich in die 10. Klasse kam, habe ich Geschichte abgewählt, weil ich sie und einen ihrer männlichen Kollegen dringend vermeiden wollte. Das hat sogar – trotz obligatorischem Geschichtskurs in der Q2 – gut funktioniert.
Als ich zu Beginn des Schuljahres in den letzten Geschichtskurs, den ich je besuchen würde, kam, hatte ich Hoffnung, einen besseren Bezug zu diesem Fach zu bekommen. Ich hatte eine sehr freundliche, liebe Lehrerin. Ein bisschen zu bedacht auf bürokratische Aspekte – aber das liegt wohl daran, dass sie uns auf die bürokratieverseuchte Berufswelt vorbereiten muss.
Doch statt meine Hoffnung zu erfüllen, aufgrund der fehlenden Einschränkungen durch einen Lehrplan freien, aufschlussreichen Unterricht zu machen, haben wir Zeitzeugeninterviews gemacht, analysiert und evaluiert. Mag sein, dass es Erfahrungswerte gebracht hat, mag sein, dass es die Fähigkeit zur Quellenkritik fördert, doch dass kaum ein Mensch als einzelner politisch relevante Geschehnisse nur aufgrund seiner Anwesenheit objektiv wiedergeben kann, hatte ich mir, ehrlich gesagt, bereits gedacht.
Zudem war das Projekt extrem umfangreich. Ich hatte vier Tage vor Abgabe erst alles von meiner Gruppe erhalten, um meinen Part, die Analyse, fertigzustellen. Insgesamt habe ich vier Stunden an einem Tag, völlig übermüdet daran gesessen. Ein Zusatzkurs hat mich in der Klausurenphase mehr Zeit gekostet als mindestens einer meiner beiden LKs.
Ich halte historisches Bewusstsein für ungemein wichtig, aber ich habe durch den Geschichtsunterricht, den ich erhalten habe, ehrlich gesagt ein recht geringes Interesse an der detaillierten Recherche betreffend verschiedenster Themen. Mein Vater, ein Geschichtsfanatiker, hat mein Interesse in Geschichte als ich klein war geweckt, mein Geschichtsunterricht hat es regelrecht erstickt.
Bildung als Artikuliertheit?
Laut Bieri ist der Gebildete belesen. Er hat deshalb aber keinesfalls unbedingt ein riesiges Repertoire an Fremdworten. Er ist in der Lage seine Gefühle und Gedanken präzise zu äußern, sowie die Äußerungen anderer klar zu verstehen. Dies ermöglicht ihm, differenzierter zu denken und zu fühlen. Hiermit stimme ich zwar überein, aber das Erlernen von emotionalen Äußerungen in genauem Maße ist überall mehr gefordert als im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Die gedankliche Präzision verbessert sich jedoch tatsächlich ungemein, wenn man viel liest.
Hierzu müsste schon in der Grundschule angeregt werden. Man sollte die Kinder beim Lesen lernen lesen lassen, was sie wollen. So entwickeln sie Spaß daran und weiten die Aktivität wahrscheinlicher in ihre Freizeit aus.
Was die spätere schulische Ausbildung betrifft, so wird viel Poesie gelesen, auch ein bisschen Prosa ist dabei. Es werden ausdrucksstarke Texte mit sprachlichen Bildern gelesen. Dies trägt durchaus zum Nachempfinden und zur Verbesserung der bildlichen Darstellung der eigenen Wahrnehmung bei, aber die eigene Darstellung, der eigene Weg der Darstellung und die Perspektive, aus welcher man diese vornehmen will, wird hierdurch nicht gefordert. Es braucht mehr Texte, die von Schülern geschrieben wurden. Es braucht mehr inhaltliche und weniger formale Korrekturen. Und es braucht vor allem mehr verschiedene Perspektiven. Denn verschiedene Milieus verwenden verschiedenes Vokabular und auch das ist wichtig zur Erweiterung der Genauigkeit des eigenen Denkens.
Bildung als moralische Sensibilität?
Bildung dient sowohl der Kritik an der „Ich Instanz“, als auch am „Über-Ich“. Die moralischen Vorstellung eines gebildeten Menschen basieren stets auf logischen Schlüssen und empathischen Neigungen. Der häufige Perspektivwechsel macht auch im zwischenmenschlichen emotionalen Bereich flexibler und man lernt, die Grenzen anderer zu erkennen, zu verstehen und zu respektieren. Bieri bezeichnet dies als die Schwierigkeit, das Gleichgewicht zwischen der Durchsetzung der eigenen Visionen und der Wahrung der Freiheiten des anderen zu halten.
Ich denke, diese Problematik ist im Endeffekt gar nicht so schwer zu lösen. man muss den eigenen persönlichen Freiraum und den des anderen schützen. Der andere hat das Recht sich auszuleben, so lange er dabei niemanden unterdrückt. Dasselbe gilt für einen selbst und jeden anderen. Dies ist eine der wenigen Dinge, die wirklich recht gut zu funktionieren scheinen. Aber es scheint eben leider nur so. Moralische Sensibilität müsste automatisch zur Chancengleichheit, zur Gerechtigkeit, zu Verständnis und zu Offenheit führen. Das sehe ich in der momentanen Lage in Deutschland nur vermindert als gegeben. Die AfD ist die zweit- bis drittstärkste Partei Deutschlands. Da kann sich das Bildungssystem hier nach Statistiken verbessert haben wie es will; wirklich gut scheint es noch nicht zu sein.Aber auch Dresscodes und Lohngefälle zwischen Mann und Frau sind noch vorhanden. Derartiges kann nicht die Folge von Toleranz und Gleichstellung sein, was moralische Sensibilität, zumindest in meinen Augen, zu großen Teilen ausmacht.
Was allgemeingültige Urteile, wie Rechtssprechungen, betrifft, so teilen sich sicherlich die Meinungen über Strafhärten und ähnliches, doch die Grundprinzipien der meisten Menschen sind recht ähnlich, auch wenn sie aus verschiedenen Kulturen stammen. Ich denke eine kompromissbereiter Diskursführung könnte sogar zu mehr Übereinstimmung führen. Doch Menschen sind Gewohnheitstiere und fürchten sich vor allem Neuen, insbesondere in ihrem näheren sozialen Umfeld.
So fehlt es dem Bildungssystem in Deutschland aufgrund mangelnden Fokus‘ auf Selbstfindung und -erkenntnis, sowie Kritikfähigkeit gegen sich und andere auch in vielen anderen Bereichen an ausreichender Abdeckung seiner Aufgabenbereiche. Das größte Problem hierbei stellt die falsch ausgerichtete Art der Ausbildung dar. Das Motto Quantität statt Qualität zieht sich durch jeden Aspekt einer ökonomisch orientierten Gesellschaft, aber bei der Erziehung mündiger, gesellschaftsfähiger Bürger kann und darf dieses Prinzip nicht gelten.
Dieser Essay ist im Unterrichts-Projekt Gute Schule entstanden. Weitere Schüler-Beiträge zu diesem Projekt finden sich unter dem Schlagwort Gute Schule.